Innere Wunden
Die meisten Menschen wahrscheinlich wissen, was mit dem Begriff „innere Verwundungen“ oder „emotionale Verwundungen“ gemeint wird. Es handelt sich um bestimmte empfindliche und schmerzhafte Plätze innerhalb unserer Seele. Wir haben in uns viele tiefe Verwundungen, Verwundungen von Kränkung, von Unrecht, von unerwideter Liebe. Wir haben eine klaffende Wunde eigener Einsamkeit und Angst. Als Kinder wurden wir durch unsere Eltern verletzt, durch Mangel an Liebe und Zuneigung, durch ungerechte Strafen. In der Schule wurden wir durch andere Mitschüler verletzt, durch Vergleich mit anderen Kinder, die klüger als wir waren. Wir wurden verletzt durch unsere Freunde. Wir werden vielleicht auch im Erwachsenalter verletzt, auf der Arbeit, in der Familie. Es gibt unterschiedliche Verwundungen. Einige sind oberflächlich und vorübergehend, einige sind sehr tief und versteckt, einige sogar unbewusst. Die Psychologen unterscheiden viele Arten von emotionalen Wunden und geben ihnen Unterschiedliche Namen. Es gibt posttraumatische Belastungsstörung wie bei Soldaten, die aus einem Krieg zurückgekehrt sind oder Wunden nach chronischem Missbrauch in der Kindheit oder Minderwertigkeitskomplexe usw. Diese Wunden sind in unserem Leben ständig tiefer Geworden und wir haben allmählich begonnen, diesen Wunden Widerstand zu leisten und sich gegen Verwundungen zu wehren. Wir haben begonnen, eine schützende Mauer und Verteidigungen um sich selbst zu bauen und aus diesen Haben wir und ein Schneckenhaus gebaut, in dem wir uns verstecken.
Was sind eigentlich unsere inneren Verwundungen? Diese Verwundungen sind Folgen von traumatisierenden Ereignissen und Erfahrungen, mit denen wir uns nicht adäquat auseinandersetzen könnten, die wir nicht begriffen und integriert haben, die wir nicht überwunden haben. Deshalb sind die in uns weiter lebendig. Sie stecken in uns wie Eissplitter und sind eine ständige Potentialquelle von innerem Schmerz, Leiden und Einsamkeit.
Was machen wir mit den Verwundungen? Hier gibt es zwei Ebenen, die bewusste und die unbewusste. Die Wahrheit auf der bewussten Ebene ist, dass wir überhaupt nicht wissen, was wir mit den Wunden machen sollten, und so decken wir sie zu und versuchen sie zu verdrängen, zu vergessen, zu vermeiden. Sie bleiben aber in uns weiter und immer, wenn wir in eine Situation kommen, die ähnlich der ist, die die Wunden ausgelöst hat, kommen die alten Wunden wieder hoch. Auf der unbewussten Ebene rufen die Wunden Angst vor weiterem Schmerz hervor. Diese Angst ist der Grund dafür, dass wir haben begonnen, um sich schützende Mauer und Verteidigungen aufzubauen, damit wir nicht weiter verletzt werden könnten. Die Psychologen nennen diese Verteidigungen „Abwehrmechanismen“ und haben viele von ihnen beschrieben und benannt. Nehmen wir an, dass ich jemandem traute oder jemandem liebte, er hat jedoch meine Traue und Liebe missbraucht und mich verletzt. So ist eine Wunde entstanden und ich habe unbewusste Angst sich wieder zu verlieben und wieder jemandem trauen. Einige Menschen können sich mit Zynismus, Humor oder scheinbaren Kälte wehren. Der häufigste Abwehrmechanismus ist Verdrängung, Verleugnung, Vermeidung oder Rationalisierung, Intelektualisierung und viele Andere. Die Abwehrmechanismen sind faszinierend. Durch diese Abwehrmechanismen haben wir begonnen, ringsum sich ein schützendes Schneckenhaus zu bauen. Und in dieses Schneckenhaus verstecken wir uns vor der Welt und vor dem Leben, dass sie uns nicht weiter verletzen könnten. In diesem Schneckenhaus verbringen wir manchmal unser ganzes Leben und haben Angst, aus ihm rauszutretten. Nur manchmal stecken wir unseren Kopf vorsichtig heraus. Wir haben Angst vor echten und tiefen Kontakten mit dem Leben. Wir haben Angst vor tiefen Beziehungen zu anderen Menschen, damit wir nicht verletzt werden können. Wir haben Angst, sich jemanden komplett zu öffnen und zu jemandem starke Gefühle zu haben, weil wir Angst vor Kränkung haben.
Diese Abwehrmechanismen haben zwei Seiten, auf der einen Seite schützen sie uns vor Verletzungen, auf der anderen Seite können sie zu weiteren Problemen führen. In unserem Schneckenhaus haben wir uns isoliert, und Isolation führt zu Einsamkeitsgefühlen und diese Einsamkeit wird zu einer neuen Quelle vom Leiden, zu einer neuen Wunde. Wir fliehen dann vor dieser Einsamkeit zu verschiedener neurotischer Aktivitäten, zur Arbeit, zum Alkohol usw. Ich möchte sagen, dass wir uns das Einsamkeitsgefühl zum Teil selber erzeugen, weil viele unserer Aktivitäten einschließlich unserer Abwehrmechanismen selbstisolierend sind, zu Selbstisolation führen. In unseren Beziehungen zum Leben suchen wir ständig Kontrolle, Selbstverteidigung und Selbstisolation. Wir wollen nicht verwundbar werden, und deshalb schließen wir uns selbst in ein Gefängnis eigener Herstellung, das wir aus unseren Abwehrmechanismen aufgebaut haben, und welches wir zu verlassen befürchten. Wir haben Angst vor Leben, und so leben wir nie voll. Wir haben Angst sich zu verlieben und sich dieser Liebe hingeben, weil wir nicht wissen, wo uns diese Lieben hinnehmen könnte. Wir haben Angst, verletzt zu werden.
Wie kann man die inneren Verwundungen behandeln? Die seelischen Wunden sind viel schwieriger als die körperlichen zu behandeln, und sie tun manchmal viel mehr weh. Diese Wunden sind wie Einsplitter in unserem Herzen und sie sind extrem schwierig loszuwerden. Leider gibt es keine einfache Methode, keine Zauberpille. Am Anfang habe ich geschrieben, dass diese innere Verwundungen Nachwirkungen von solchen Erfahrungen aus der Vergangenheit sind, die wir damals nicht völlig begreifen könnten, auf die wir damals nicht völlig und adäquat reagieren könnten, die wir nicht integrieren können, und die in uns deshalb weiter als unassimilierte Fragmente lebendig sind. Wir haben jedoch die Möglichkeit, diese Erfahrungen nachträglicht zu begreifen und integrieren, und somit die Wunden ausheilen. Diese Wunden sind das in uns, was wir unzulänglich begriffen haben und was wir als eine Last in die Zukunft tragen, als Potentialquelle vom Schmerz und Leiden.
Mein Vorschlag wäre folgendes: das erste Schritt ist, dass man sich diesen Wunden überhaupt bewusst wird und sie entdeckt. Manchmal sind wir uns unseren Wunden nicht bewusst. Wir haben sie häufig in das Unbewusste verdrängt und auch die Abwehrmechanismen funktionieren unbewusst. Wenn wir sie aufdecken, dann sollten wir sie nicht gleich wieder zudecken mit allem Möglichen, was wir zuhanden haben, jedoch gerade das Umgekehrte – wir sollten versuchen, alle die alten und schmutzigen Verbände zu entfernen. Ein fremdes Körper in der Bein kann man auch nicht ohne Schmerz entfernen. Wir sollten diese Wunden aufdecken, aufhören von ihnen wegzufliehen, lassen die Wirken und beobachten. Man muss sie gründlich erkennen, sie als ein Teil von sich selbst akzeptieren und erblicken, was sie mit mir machen, wir sie meine Handlung kontrollieren, wie ich mir ihretwegen Abwehrmechanismen erzeuge, wir ich ihretwegen ständig nur fliehe. Nur wenn man sie so gründlich erkennt, gibt es Hoffnung, sie zu integrieren und ausheilen. Leider ist es extrem schwierig. Wir sind nicht bereit, diese Wunden zu konfrontieren, wir lehnen ab, sich mit ihnen zu befassen, wir lehnen ab, nur einen Blick auf sie zu werfen, wir lehnen ab, die uralten Verbände zu entfernen, denn wir haben Angst vor emotionalem Schmerz. Und trotzdem ist das die einzige Möglichkeit. Der einzige Weg führt durch die Wunden, nicht vorbei. Man muss die Wunden begreifen und integrieren, ihnen zu entwachsen.
Die Abwehrmechanismen und Fluchten helfen uns nicht. Die Tatsache ist, dass die Verwundung, vor dem wir uns schützen wollen und vor welchem wir fliehen, existiert nicht draußen, sondern in uns. Alle psychologische Fluchten sind vergeblich. Vor was immer wir fliehen, wir tragen es in uns. Wenn ich vor Einsamkeit fliehe, dann bin ich schon einsam. Wenn ich vor Leiden fliehe, dann leide ich schon. Wenn ich etwas vor Verlust schütze, dann habe ich es schon innerlich verloren. Wenn ich psychologische Sicherheit suche, dann bin ich schon unsicher. Wer das begreift, findet, dass alle Flüchten vergeblich sind, dass man vor sich selbst flieht und vor dem, was man in sich selbst hat. Man flieht nicht vor einer zukünftigen Verletzung, sonder er flieht vor der Verletzung, die er schon in sich selbst hat. Wo ist der Weg aus diesem Teufelskreis? Selbst die Tatsache, das man diesen Teufelskreis und Prozess in sich selbst erblickt, wirkt schon heilend. Man muss treffen damit, wovor man flieht, und das ist er selbst. Es ist ähnlich wie eine Flucht vor Angst. Wenn wir vor Angst fliehen, dann begreifen wir nicht, dass alleine das Fliehen die Angst konstituiert und das wir selbst die Angst sind. Wir sind wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagt.